22.11.2022
Wie kommt man mit MS risikoarm durch Schwangerschaft und Stillzeit? Wie lässt sich der Krankheitsverlauf vorhersagen? Und: Wann kann man die Therapie absetzen? Darüber sprachen Neurologen beim MS-Tag des Caritas-Krankenhauses.
Jährlich wird hierzulande etwa 15.000 Mal eine Multiple Sklerose diagnostiziert. Der MS-Tag des Caritas-Krankenhauses bot Menschen mit MS am vergangenen Samstag zum 12. Mal ein Forum. In drei Vorträgen und einer Expertenfragerunde hatten sich über 100 Interessierte von Niedersachsen bis zum Allgäu zugeschaltet. Sie bekamen die Möglichkeit, individuelle Anliegen zu diskutieren und sich auf den neuesten Stand der Wissenschaft zu bringen.
Im ersten Vortrag berichtete Neurologie-Chefarzt Priv.-Doz. Dr. Mathias Buttmann über Neuigkeiten zur verlaufsmodifizierenden Therapie. Sein grundlegender Appell: „Die frühe konsequente Behandlung von Multipler Sklerose ist gerade in jüngerem Alter entscheidend, weil sie das langfristige Risiko für bleibende Behinderungen senkt!“ Menschen mit MS sollten sich nicht täuschen lassen, wenn schon länger kein Krankheitsschub mehr aufgetreten sei. Das sei nicht selten nur ein falscher Frieden.
Wichtig bleibe allerdings eine für jede Einzelperson in einer Nutzen-Risiko-Abwägung sorgfältig abgestimmte Auswahl des Medikaments. „Das Therapieziel ist dabei immer eine kurz- und vor allem auch langfristig optimale Lebensqualität, die aber nicht für jeden Menschen das Gleiche bedeutet“, so der Chefarzt. Von zentraler Bedeutung sei deshalb das ausführliche persönliche Gespräch, um gemeinsam eine geeignete Strategie zu finden. Entscheide man sich ganz gegen eine medikamentöse Therapie, sollte dies im Wissen um die möglichen langfristigen Auswirkungen geschehen. „Hieran hapert es manchmal“, stellte Dr. Buttmann fest.
Schwangerschaft und MS – moderne Therapien gewährleisten
Schutz
Einen besonderen Fokus
richtete der Chefarzt bei seinem Vortrag auf das Thema Schwangerschaft. „Früher
hieß es: während Schwangerschaft und Stillzeit grundsätzlich keine
MS-Medikamente. Das ist heute aber überholt.“ Die moderat wirksamen
Injektionstherapeutika Interferon-β und Glatirameracetat seien inzwischen für
die Anwendung in der Schwangerschaft eingeschränkt und in der Stillzeit sogar
uneingeschränkt zugelassen – wenn auch bei noch begrenzter Datenlage. „Weil das
Schubrisiko direkt nach der Geburt zunimmt, kann zum Teil eine durchlaufende Therapie
für einen Grundschutz sinnvoll sein.“
Mit Natalizumab und
Ocrelizumab stünden zudem Medikamente zur Verfügung, mit denen sich auch eine
Schwangerschaft bei hochaktiver MS für Mutter und Kind risikoarm bewältigen
lasse. Der Neurologe stellte hierzu detailliert verschiedene neue Daten vor,
die Ende Oktober auf dem Spezialkongress ECTRIMS in Amsterdam erstmals der
Welt-Fachöffentlichkeit präsentiert worden waren. Das hochwirksame Ofatumumab
stelle eine zusätzliche sehr gute und im Gegensatz zum Natalizumab und
Ocrelizumab offiziell zugelassene Möglichkeit zur Anwendung in der Stillzeit
dar. „Zum Schutz des Kindes nicht während der Schwangerschaft eingesetzt werden
sollten hingegen alle derzeitigen Medikamente in Tablettenform“, so der
MS-Experte. Dies sollte aber jüngere Frauen, die keinen unmittelbaren
Kinderwunsch haben, nicht davon abhalten, eine solche Therapie zu beginnen, so
Dr. Buttmann.
Der individuelle Verlauf der Erkrankung lässt sich immer
besser vorhersagen
Wie Multiple Sklerose
diagnostiziert wird und welche Prognosefaktoren für einen ungünstigen Verlauf
der Krankheit sprechen, darüber berichtete anschließend Oberarzt Dr. Waldemar
Kafke, der am Caritas-Krankenhaus die MS-Infusionsambulanz leitet. „Insbesondere
das Rauchen wird häufig unterschätzt“, betonte der Neurologe. „Dabei wirkt das
Aufhören für Menschen mit MS etwa so stark wie ein Basistherapeutikum, also
ganz entscheidend.“
Weitere Risikofaktoren unter
vielen seien etwa ein junges Alter oder der kernspintomographische Befund bei
Erkrankungsbeginn sowie eine vermehrte Produktion von Immunglobulinen im
Nervenwasser. Darüber hinaus etabliere sich mit den Neurofilament-Leichtketten
im Blut gerade ein neuer Biomarker entzündlicher Erkrankungsaktivität. „Auch
wenn der individuelle Verlauf nur eingeschränkt vorhersagbar bleibt, haben wir
doch in den letzten Jahren so viel gelernt“, unterstrich der Oberarzt, „dass
wir inzwischen noch viel zielgerichteter Therapien auswählen und so gerade
langfristig die Prognose entscheidend verbessern können.“
Beendigung der MS-Therapie möglich – unter bestimmten
Voraussetzungen
Im letzten Vortrag des Tages
machte Chefarzt Priv.-Doz. Dr. Buttmann das Absetzen der MS-Therapie zum Thema.
„Mögliche Gründe dafür gibt es viele: Nebenwirkungen von Medikamenten, mangelnde
Wirksamkeit oder Therapiemüdigkeit.“ Zudem sinke mit zunehmendem Alter die
Wirksamkeit der Medikamente, während Risiken für Nebenwirkungen zum Teil anstiegen.
„Ich vertrete den Grundsatz:
Wenn es gut läuft, am besten nichts ändern“, so der Neurologe. „Aber bei Menschen
über 60 Jahren, die unter einer Basistherapie in den letzten fünf Jahren weder
klinisch noch kernspintomographisch Krankheitsaktivität hatten, ist das Risiko
wahrscheinlich gering, wenn sie die Therapie absetzen. Er stellte hierzu
kürzlich beim ECTRIMS-Kongress der Fachöffentlichkeit präsentierte Ergebnisse
der DISCOMS-Studie vor. „Ein Restrisiko bleibt jedoch, deshalb ist eine
umfangreiche Aufklärung wichtig, auch hat nicht nur beim Therapiebeginn,
sondern auch beim Aufhören immer der Mensch mit MS das letzte Wort.“